Sprache: Einige allgemeine Eigenschaften

Sprache: Einige allgemeine Eigenschaften
Sprache: Einige allgemeine Eigenschaften
 
Das Problem der »Ursprache« der Menschheit ist lange Gegenstand von Spekulationen und wissenschaftlichen Untersuchungen gewesen. Insbesondere wurde wiederholt versucht, von kindlichem Spracherwerb Rückschlüsse auf die Entstehung der menschlichen Sprache überhaupt zu ziehen. Solche Ansätze haben sich jedoch im Wesentlichen als verfehlt erwiesen. Unabhängig davon ist es gleichwohl aufschlussreich, sich einige allgemeine Eigenschaften der Anlagen des Menschen zu vergegenwärtigen, die es ihm ermöglichen, Sprachen zu erlernen. Hierbei geht es in erster Linie um die Muttersprache, genauer um die Anlagen zum Erwerb der Erstsprache.
 
 
Zunächst ist die schlichte Tatsache hervorzuheben, dass der Mensch bei seiner Geburt sprachlos ist. Anders als etwa den aufrechten Gang oder die Sexualität entwickelt er seine Sprache nicht spontan, sondern übernimmt diese von seiner Umgebung. Diese Eigenschaft könnte man daher nach dem lateinischen Wort »infans« für »kleines Kind« und »nicht sprechend« Infantilität nennen. Der Spracherwerb ist jedoch nicht radikal, sondern beruht auf frühkindlichen, vorsprachlichen Formen der Kommunikation, die nicht erlernt sein können, ohne ihrerseits auf primitivere und ungelernte Anlagen zurückzugehen. Die Eigenschaft der Infantilität verlangt demzufolge eine direkt oder indirekt auf unserem Genom beruhende Anlage zur Erlernung von Sprachen. Offen bleibt nur, was diese Anlage enthält.
 
 
Es gibt keine Wortart, grammatische Konstruktion oder pragmatische Besonderheit einer Sprache, die eine Menschengruppe aufgrund ihrer Abstammung beherrschte, eine andere Gruppe dagegen nicht. Die Menschheit ist demnach in dem Sinne homogen, dass sie keine »rassischen«, geschlechtlichen oder familiären, also generell biologischen Unterschiede in der Anlage zum Spracherwerb aufweist. Obwohl individuelle Unterschiede nicht zu leugnen sind, erscheinen diese aus anthropologischer Perspektive eher unbedeutend. Zwar kommen Sprachbegabungen vor — so wie jemand musikalisch sein kann —, doch wirken sich diese nicht auf den kindlichen Erwerb der Erstsprache aus. Sie betreffen vielmehr die Aneignung von Sprachen im Erwachsenenalter oder rhetorische Fähigkeiten.
 
 
Jeder gesunde Mensch erwirbt als Kind unter normalen Bedingungen eine Sprache und beherrscht sie später vollständig. Denn wir sind nicht nur in der Lage, eine Sprache zu erlernen, sondern können aufgrund unserer Anlagen gar nicht anders, als dies zu tun. So sind zwar schriftlose Kulturen und Völker bekannt, die auf das Rechnen verzichten, doch ist kein einziges Beispiel einer sprachlosen Gemeinschaft dokumentiert. Fälle, in denen jemand nicht spricht, da der Kontakt zur Umgebung gewaltsam unterbunden wird oder weil eine schwere Behinderung wie etwa Taubheit vorliegt, zählen in diesem Zusammenhang selbstverständlich nicht.
 
 
Die Anlage, eine Sprache zu erlernen, ist plastisch, da sie keine bestimmte Sprache vorschreibt. Homogenität und Plastizität zusammen reflektieren die wichtige Tatsache, dass jeder Mensch als Kind jede menschliche Sprache erlernen kann. Vor dem Hintergrund der Imperativität des Spracherwerbs lernt jeder Mensch in seiner Kindheit unabhängig von seiner Abstammung zunächst die Sprache seiner Umgebung. Das aber heißt mit Blick auf die einzelnen Sprachen, dass es keine wirklich primitiven oder höher stehenden Sprachen oder Varietäten gibt. Die allgemeine Hochschätzung etwa des Sanskrits oder des Chinesischen beruht weniger auf den linguistischen Eigenschaften dieser Sprachen, als vielmehr auf ihrer Literatur. Wer Slangs als minderwertig empfindet, verkennt die Komplexität ihrer sprachlichen Strukturen. In diesem Sinn hat der amerikanische Linguist und Anthropologe Edward Sapir als Erster die Meinung vertreten, dass sich keine Sprache in dem für uns überschaubaren Zeitraum linguistisch beurteilt wesentlich weiterentwickelt habe oder degeneriert sei.
 
 
Im Alter von acht bis zwölf Jahren beherrscht ein Kind in der Regel auch komplexere grammatische Strukturen und schwierige Begriffsbildungen. Damit gilt der primäre Spracherwerb als abgeschlossen. Doch bleibt der Mensch zeitlebens bis zu einem gewissen Grade sprachlich variabel. So übernimmt und prägt er neue Wörter, erweitert er die Bedeutung vertrauter Ausdrücke um modische Schattierungen oder vergisst Teile seines Wortschatzes. Die grammatische Struktur von Sätzen scheint dagegen bei Erwachsenen relativ stabil zu sein. Die Variabilität der Sprache im Erwachsenenalter ist die Vorbedingung für jede über den Wechsel der Generationen hinausgehende Evolution der Sprachen und damit für die Entfaltung einer Sprach- und Kulturgeschichte.
 
 
Ein Mensch kann als Kind nicht nur seine Muttersprache erwerben, sondern nacheinander oder gleichzeitig weitere Sprachen erlernen. Der Mensch kann in diesem Sinn multipel genannt werden. Beispielsweise lernen indische Kinder, entsprechende soziale Verhältnisse vorausgesetzt, bereits in jungen Jahren eine der 14 offiziellen Regionalsprachen des Landes, die indische Amtssprache Hindi und zudem oft noch Englisch. Offensichtlich blockiert das Erlernen oder Beherrschen der einen Sprache nicht grundsätzlich das der anderen, wenn auch nach Ansicht einiger Entwicklungspsychologen multiple Lernprozesse dazu führen, dass keine der beteiligten Sprachen vollständig erworben wird. Multiplität ist die Voraussetzung für die Verständigung zwischen den Menschen mit verschiedenen Sprachen und somit auch für Übersetzungen. Daher könnte ohne die Multiplität auch kein Austausch zwischen den Sprachen stattfinden. Ohne sie wären die verschiedenen Sprachgemeinschaften kulturell isoliert.
 
 
Bislang ist kein Fall bekannt geworden, in dem ein gesunder und unter normalen Umständen lebender Mensch die »Sprache« eines Tieres beherrscht und sie nicht nur imitiert hätte. Umgekehrt scheint auch kein Tier jemals eine menschliche Sprache in nennenswertem Umfang erlernt zu haben, sodass wir von grundlegend verschiedenen Zeichensystemen ausgehen müssen. In diesem Sinne ist die Menschheit vom Tierreich isoliert; Menschen und Tiere »verstehen« sich auf sprachlicher Ebene nicht. Die Isolation der menschlichen Sprache gegenüber den Formen der Kommunikation bei Tieren ist so umfassend, dass uns selbst eine passende Bezeichnung für Letztere fehlt. Isoliertheit scheint aber keine Besonderheit des Menschen zu sein, denn die meisten Tiere können mit Vertretern anderer Gattungen ebenfalls nicht kommunizieren. Diese Beobachtung zwingt die Linguistik zu der Annahme, dass menschliche Sprachen nicht beliebige Gestalt annehmen können und führt zum Postulat einer biologischen Natur menschlicher Sprachen (die bislang von der Wissenschaft allerdings nur undeutlich erkannt wird). Zugleich unterstreicht die Feststellung der Isoliertheit noch einmal, dass ein »radikaler« Spracherwerb ohne spezifische genetische Anlagen offensichtlich nicht möglich ist.
 
 
Tatsächlich weiß man über die biologische Determination der menschlichen Sprache immer noch sehr wenig, obwohl Wissenschaftler die Entdeckung des Sprachgens SPCH 1 als Durchbruch feierten. So ist nicht sicher, ob die Erbanlagen bestimmte Strukturen der Sprache festlegen oder in ihrer Entwicklung nur mittelbar begünstigen. Unsere genetischen Anlagen scheinen aber insofern spezifisch zu sein, als sie — direkt oder indirekt — den Sprachen eine besondere Architektur verleihen: Wie vergleichende Untersuchungen zeigen, sind sprachliche Ausdrücke erstens generell linear und zweitens immer dreistufig. Sie bestehen aus Lauten, Wörtern und Sätzen. Dabei ist das Verhältnis zwischen Lauten und Wörtern arbiträr und die Beziehung zwischen Wörtern und Sätzen produktiv.
 
 Linearität und Dreistufigkeit der Sprachen
 
Alle Sprachen reihen Laute, Wörter und Sätze wie Perlen aneinander. Sie sind demnach nur in einer Dimension ausgedehnt, das heißt linear, obwohl sie als gesprochene Sprachen in unterschiedliche Lautstärken, Tonhöhen und Klangfarben artikuliert werden und damit in mehreren Kategorien variieren. Wenn komplexe Sachverhalte beschrieben werden sollen, müssen deren Strukturen aufgelöst und die den einzelnen Elementen entsprechenden sprachlichen Ausdrücke nach bestimmten Regeln in eine lineare Abfolge gebracht werden. Diesen Vorgang, der zu den hervorstechendsten Eigentümlichkeiten der menschlichen Sprache gehört, bezeichnet man als Codierung. Dabei werden alle sprachlichen Ausdrücke in drei Stufen aufgebaut: Aus Lauten werden Wörter gebildet, die ihrerseits Bausteine von Sätzen werden. Ein-Laut-Wörter wie japanisch o »Schwanz« oder Ein-Wort-Sätze wie das deutsche Schweig! sind demzufolge Ausnahmefälle, lateinisch î »geh« ist sogar ein Ein-Laut-Satz.
 
 Die Beziehung zwischen Lauten und Wörtern ist arbiträr
 
Die Verbindung eines Gegenstandes, einer Vorstellung oder eines Begriffs, kurz der Bedeutung eines Wortes mit einer Lautfolge ist zumeist vollkommen willkürlich (arbiträr). Vom systematischen Standpunkt aus betrachtet gibt es beispielsweise keinen zwingenden Grund dafür, etwa das im Deutschen als Baum Bezeichnete gerade mit dieser Lautfolge auszudrücken und nicht wie im Französischen mit arbre oder wie im Englischen mit tree. Dazu kommt die Tatsache, dass verschiedene Sprachen die Begriffe anders fassen, zum Beispiel die Grenzen zwischen den Begriffen »Baum« und »Strauch« anders ziehen.
 
Die Erklärung des Begriffs Arbitrarität als Willkür oder Beliebigkeit darf nicht dazu verführen, jede Beziehung zwischen Ausdrücken und Inhalten zu leugnen. Tatsächlich können wir eine Sprache nur sprechen, da wir eine bestimmte Verbindung zwischen der Bedeutung eines Wortes mit dem entsprechenden Zeichen und dessen Relation zu einer Lautfolge herstellen können. Wörterbücher versuchen diese Beziehungen zu erfassen. Da sie keinen einfachen Regeln gehorchen, empfindet sie besonders der Lernende als irregulär oder eben arbiträr.
 
 Die Beziehung zwischen Wörtern und Sätzen ist produktiv
 
Wir können davon ausgehen, dass ein kleines Kind nicht alle Sätze bereits einmal gehört und memoriert hat, die es zu formulieren versteht. Es hat nicht eine Menge von Sätzen auswendig gelernt, um sie dann wiederzugeben. Vielmehr löst es diese unwillkürlich in Wörter auf und bildet — ihm unbewusst — Regeln aus, um Wörter zu neuen Sätzen zu verknüpfen. Damit ermöglicht das Hören relativ weniger Sätze die Bildung einer Vielzahl von Sätzen. Wir machen, wie Wilhelm von Humboldt formulierte, von endlichen Mitteln unendlichen Gebrauch, indem wir die Elemente unseres Wortschatzes immer wieder neu kombinieren.
 
Diesen Gedanken hat der amerikanische Linguist Noam Chomsky seit 1955 mithilfe mathemathischer Modelle präzisiert. Er prägte für unser Vermögen, unbegrenzt viele Sätze aus vergleichsweise wenigen Wörtern und nach nur einigen Regeln hervorzubringen, den Begriff der Produktivität. Diese hat laut Chomsky eine bestimmte mathematische Form, die allen Sprachen eine gemeinsame Grundstruktur, die Universalgrammatik, verleiht.
 
Prof. Dr. Volker Beeh
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Phonetik und Phonologie
 
 
Crystal, David: Die Cambridge-Enzyklopädie der Sprache. Aus dem Englischen. Studienausgabe Frankfurt am Main u. a. 1995.
 
Duden, Grammatik der deutschen Gegenwartssprache, herausgegeben von der Dudenredaktion. Bearbeitet von Peter Eisenberg u. a. Mannheim u. a. 61998.
 Keller, Rudi: Zeichentheorie. Tübingen u. a. 1995.
 Kutschera, Franz von: Sprachphilosophie. München 21975. Nachdruck München 1993.
 Morris, Charles William: Grundlagen der Zeichentheorie. Aus dem Englischen. Taschenbuchausgabe Frankfurt am Main 1988.
 Saussure, Ferdinand de: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, herausgegeben von Charles Bally u. a. Aus dem Französischen. Berlin u. a. 21967. Nachdruck Berlin 1986.

Universal-Lexikon. 2012.

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